Mit dem Fall der Mauer fiel auch eine für zahlreiche Wildtiere unüberwindliche Barriere. Nicht nur Menschen entflohen dem Arbeiter- und Bauernparadies, sondern auch beispielsweise die Wildschweine. Fast sieht es so aus, als wären diese Tiere von der Überflussgesellschaft angezogen und fasziniert. Wälder und Parks, Gärten und Friedhöfe bieten ihnen attraktive Betätigungsfelder. Sie kommen gut zurecht. Sie fühlen sich wohl. Sie vermehren sich zum Beweis dafür rasant. Angeblich sollen sie sogar die bei Wildschweinen üblichen jährlichen Fruchtbarkeitszyklen aufgegeben haben und das ganze Jahr über Junge zur Welt bringen können, was nur unter besonders günstigen Lebensbedingungen möglich ist.
Etliche Berliner erwarben sich die Zuneigung der Schweine durch regelmäßiges Füttern. Dabei scheint es so, als hätten die Tiere ihre Wildheit aufgegeben und zeigten sich fast zahm und vorsichtig zurückhaltend, geradezu hand- und behutsam. Erst nachdem die Tiere aufgrund ihrer zügellosen Vermehrung als problematisch eingeschätzt wurden, erließ man als eine der Gegenmaßnahmen ein Fütterungsverbot. Aber diejenigen unter den Tierfreunden, die vom Füttern bereits abhängig waren, blieben davon unbeeindruckt. Nächtliche Führungen werden angeboten, den naturfernen Großstadtmenschen das Treiben der Tiere nahezubringen, deren Nähe im Dunkeln schon durch ihren markanten Geruch erkennbar ist, bevor man sie vielleicht zu Gesicht bekommt.
Aufgrund der zahlreichen Sympathisanten für Wildschweine muss der Abschuss im Geheimen und unter strengen Auflagen erfolgen. Es kann ja wohl kaum auf Friedhöfen herumgeballert werden und auf Schulhöfen nur in den Ferien. Natürlich haben die Grundsätze für waidgerechtes Jagen Gültigkeit ohne Ausnahmen: Man darf keine Bache mit Jungen schießen. Vermutlich, damit die Jungen unbeeinträchtigt aufwachsen und das Problem vergrößern können. Die Wildschweine ihrerseits, wie gesagt, sind opportunistisch drauf und dran, die natürlichen Grenzen ihrer Fruchtbarkeitszyklen zu ignorieren. Dazu kommt ihre Klugheit, mit der sie präzise unterscheiden zwischen Menschen, die ihnen gut gesinnt sind, und solchen, die ihnen Übles wollen. Sogar nachts sind sie dazu in der Lage, zu erkennen, ob sie nur besichtigt oder gejagt werden sollen. Ihre zahme Freundlichkeit einerseits korrespondiert also mit einer stets bereiten Angriffslust, ihre feinfühlige Zurückhaltung mit einer brutalen Aggressivität: zwei Pole ihres Wesens, die sie gleichsam vernunftbegabt gezielt zum Vorschein bringen können. Krankenhäuser für Hunde profitieren von der Zunahme der Verletzungen, die Hunden durch Wildschweine zugefügt werden. Die Gebäude dieser Privatkliniken und die Operationsteams sind ausgelastet, ja können sogar personell aufgestockt werden. Die Tierliebe zu Hunden kollidiert also mit der Tierliebe zu den Wildschweinen. So hat das Wildschwein sein Gutes und befruchtet alles.
Mittlerweile kämpft man auch in Italien und speziell in der Toscana mit einer Wildschweinplage, nachdem die Tiere in den 90er Jahren weitblickend – wofür naturgemäß die Einwohner Italiens bekanntlich sind – und gewinnorientiert – wie es sich für eine clevere und kapitalistische Nation gehört – sogar angesiedelt worden waren. Aber es ist wohl zu mühsam, die abgeschossenen Exemplare alle der Wildschweinschinken und -wurstproduktion in Norcia zuzuführen, wo sie dann – aus der Toscana stammend – als typisches Produkt Umbriens vermarktet würden. Dies alles ist für jeden Italiener mit Weitblick zu unübersichtlich und urheberrechtlich zu kompliziert. Trotzdem kommt es – dem italienisch temperamentvollen Nationalcharakter entsprechend zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Wildschweingegnern und Tierfreunden. Die eine Seite empfiehlt sogar den Einsatz von Flammenwerfern gegen die Schweine, die andere demonstriert mit Wildschweinmasken gegen das bevorstehende Blutbad nach dem solidaritätsstiftenden Motto: Irgendwie sind wir doch alle Schweine. Dabei weiß man aus der Geschichte: Trotz ausschweifender und regelmäßiger Gelage mit Wildschweinfleisch am äußersten Rande Frankreichs (ultima Gallia) seit den ältesten Zeiten konnte das Wildschweinproblem nicht befriedigend und dauerhaft gelöst werden.
Die konsequente Schonzeit, die neben anderen Maßnahmen unter der Schirmherrschaft von Herrn Hermann Göring mit einem für die gesamte Erde vorbildlichen Jagdgesetz eingeführt wurde, dient eigentlich nur dazu, dass der Wildbestand erhalten bleibt und die Jäger auch nach zwölf Monaten und etwa beispielsweise nach zwölf Jahren noch etwas zum Abschießen vorfinden. Die ordnungsgemäße Verwaltung des Tierbestandes stößt jedoch an ihre Grenzen, wenn diese eine Tierart zur Plage wird. Jede schonzeitmäßige Zurückhaltung begünstigt die zahlenmäßige Explosion des Bestandes. Konsequent wäre es also, in diesem Fall keinerlei Schonung walten zu lassen. Nicht den Flammenwerfern und dem hemmungslosen Abschießen von Bachen mit Jungtieren soll hier das Wort geredet werden. Es müsste einer hochentwickelten Industrienation, die den menschlichen Geburtenwunsch medizinisch optimal zu regeln vermag, möglich sein, in ähnlicher Weise den ungeordneten Wildschweinzuwachs in geordnete Bahnen zu lenken. Es wäre sicherlich im Sinne aller Tierfreunde, dass dabei das Lustprinzip nicht beeinträchtigt wird, nur der lästige Zuwachs von Nachwuchs sollte gestoppt werden. Die Zahl der wildschweinbedingten Unfälle würde deutlich zurückgehen. Der (motorisierte) Verkehr dürfte wieder ungehindert fließen.